Kälber in Neuseeland



Vor kurzem war ich mit Freunden, S. und M., bei einer sogenannten Open Mic Veranstaltung. Das Thema an diesem Abend lautete Seltsame Jobs. Ich war stolz auf mich, dort zu sein. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, öfters zu Veranstaltungen zu gehen, die mich von meinem Tierrechtsaktivismus-Alltag ablenken. Manche Beiträge beim Open Mic waren richtig amüsant, z.b. der eines Beatboxers, und ich dachte endlich mal nicht an die Tierausbeutung.

Doch dann betrat eine Frau Mitte zwanzig die Bühne. Sie erzählte auf englisch über ihren seltsamen Job, den sie mal in Neuseeland gemacht hatte – und zwar auf einer Rinderfarm. Mir schwante Übles – und ich sollte leider Recht behalten. Auf dieser Rinderfarm mit 5000 Kühen bestand nämlich ihre einzige Aufgabe darin, die Kälber zu füttern. Bereits an dieser Stelle der Geschichte dachte ich mir, dass ich den Raum schleunigst verlassen sollte, um mich vor dem zu schützen, was noch alles kommen mochte. Doch ich war wie gelähmt und hörte ihr weiter zu.

Sie erzählte davon, wie schwierig es für sie gewesen war, die Kälber zu füttern, wenn sie nicht von alleine vom sogenannten feeder trinken wollten. Anfangs war sie noch geduldig mit den Kälbern und führte sie sachte zur Saugstation hin. Doch mit der Zeit wurde es ihr zu blöd und ihr Umgang mit den Kälbern dementsprechend rauer. So hielt sie etwa die Kälber zwischen ihren Beinen fest, um sie endlich zum Säugen beim feeder zu bringen oder rang geradezu mit ihnen, um sie von Hand zu füttern. Falls ich mich richtig erinnern kann, erklärte sie nicht mal, warum die Kälber überhaupt von ihr gefüttert werden mussten anstatt von ihren eigenen Müttern umsorgt zu werden.

Das Widerliche an ihrer Geschichte war nicht nur die mir wohlbekannte Trennung von Mutterkuh und Kalb, sondern die brutal-humoristische Schilderung ihrer Arbeit, die zudem noch von Gelächter im Publikum belohnt wurde. Die Erzählerin schien überhaupt keine Gewissensbisse noch irgendeine Spur von Mitleid mit den Kälbern zu haben. Der Höhepunkt der Abscheulichkeit stand aber erst noch bevor: Da die Kälber sie so sehr genervt hatten, freute sie der Gedanke, dass sie eines Tages geschlachtet werden würden.

Während der Erzählung kam es mir so vor, als würde sich vor mir ein dunkler Abgrund auftun. Ich zitterte und mein Puls raste. Es war schlimm für mich. Ich sah in Gedanken die Trennung von Mutterkuh und Kind, die brutale Behandlung der Kälber und schlussendlich deren Schlachtung. Und ich sah die Reaktion des Publikums. Lachen. Heiterkeit. Gedankenlosigkeit. Unerträglich für mich. – Ich musste irgendwie intervenieren. Doch ich war immer noch in einer Art Schockzustand. Ich war in diesem Rahmen nicht darauf vorbereitet, dass jemand so zynisch und dreist über die Tierausbeutung sprechen würde.

Während weitere Menschen auf der Bühne ihre Geschichten erzählten, überlegte ich mir, was ich nun tun sollte. Sollte ich auch auf der Bühne sprechen? Oder nach der Veranstaltung mit der Erzählerin der Kälbergeschichte reden? Der Moderator fragte nach weiteren Beiträgen aus dem Publikum. Das war die letzte Chance! Ich gab mir einen Ruck, stand auf und meldete mich.

Die Leute applaudierten. Wie in Trance ging ich auf die Bühne. Ich setzte mich neben den Moderator. Stehen wollte ich in meiner Verfassung nicht. Er gab mir das Mikro. Zu meiner eigenen Überraschung war ich ganz ruhig. Ich wagte einen Blick ins Publikum. Glücklicherweise sah ich dank des Bühnenlichts so gut wie keine Gesichter. Ansonsten hätte mich das nur verunsichert. Ich begann, von meinem seltsamen Job zu erzählen (in der folgenden Passage gebe ich sinngemäß das wieder, woran ich mich noch erinnern kann):





„Guten Abend! Mein Name ist Sebastian und ich bin Tierrechtsaktivist. Eigentlich bin ich heute mit dem Vorsatz hergekommen, einen angenehmen Abend zu verbringen. Doch der Redebeitrag über die Kälber in Neuseeland hat mich dazu veranlasst, einige Anmerkungen darüber zu machen. Meine Vorrednerin hat nicht erwähnt, warum diese Kälber überhaupt mit dem feeder gefüttert werden müssen. Das ist so weil sie von ihren Müttern weggenommen werden, damit Menschen ihre Milch trinken können. Das passiert nicht nur in Neuseeland, sondern auch hier in Tirol. Das ist eine Standardpraxis. Andernfalls ist die Milchproduktion weniger rentabel. Es wird gerne so getan, als wären die Zustände in der österreichischen Nutztierhaltung so viel besser, doch das ist ein Irrtum.

Zur Erklärung: Ich habe eine sekundäre Traumatisierung. In meinem Fall äußert sich das so, dass ich immer wieder an Schlachtungen denken muss, aber auch an Kälber, die von ihren Müttern weggenommen werden. Für mich ist das also sehr schwer zu ertragen, wenn jemand so über diese Situation spricht und dann auch noch darüber gelacht wird. Darum, informiert euch bitte. Auf Youtube gibt es genug Videos, welche die Missstände in der Nutztierhaltung aufzeigen. Dann könnt ihr entscheiden, ob ihr diese Gewalt weiterhin unterstützen wollt oder nicht. Danke.“





Wieder Applaus. Ich verließ die Bühne und gab dem Moderator das Mikro zurück. Er bedankte sich für meinen ehrlichen Beitrag. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich wieder zurück ins Publikum zu meinen Freunden zu setzen. Doch ich entschied mich dafür, den Raum zu verlassen. Auf dem Weg nach draußen begann ich zu weinen und zu zittern. Ein paar Schritte weiter, im Gang zum WC, verließen mich die Kräfte und ich ging zu Boden. Ich war verzweifelt und erleichtert zugleich. Verzweifelt, weil die Tierausbeutung und deren Verharmlosung mich massiv belasten. Erleichtert, weil ich den Mut aufgebracht hatte, darüber auf der Bühne zu sprechen.

Zusammengekauert versuchte ich mich zu beruhigen. Ich wollte nicht so viel Schwäche zeigen. Immer noch zitternd stand ich auf und ging zum Waschbecken beim WC. Ich wollte mir mein Gesicht waschen, um wieder klar denken zu können, doch irgendwie gelang mir das nicht. So als stünde ich unter Schock hielt ich mich am Waschbecken fest und starrte einfach nur in den Spiegel. Ein paar Sekunden später tauchte M. auf und erkundigte sich, wie es mir ginge. Nicht so gut, antwortete ich und umarme ihn, während mir wieder die Tränen vom Gesicht rinnen. Anscheinend hatte ich mich noch nicht wieder ausreichend stabilisiert.

Vor den Toiletten wartete S auf uns. In ihren Armen liegend schluchzte ich, dass das alles ein Albtraum sei und ich nicht wisse, wie lange ich das noch aushielte. Auch andere Leute waren anwesend. Unter ihnen der Moderator. Er bedankte sich erneut bei mir und meinte sinngemäß, dass er meine Position teile. Diese Anerkennung munterte mich ein wenig auf. Wir beschlossen, die Veranstaltung zu verlassen.

Auf dem Weg nach draußen – ich immer noch etwas wacklig – sprach mich eine junge Frau an, die meinen Beitrag ebenfalls toll fand. Und dann passierte etwas sehr Schönes: Sie fragte, ob sie mich umarmen dürfe, was ich natürlich bejahte. So standen wir ein paar Sekunden eng umschlungen da. Danke, murmelte ich. Die Nähe tat mir sehr gut. Ich hätte mir keine schönere spontane Unterstützungsbekundung von einer unbekannten Person erwarten können. In dieser Lage wurde mir auch klar, dass sich inzwischen überall Verbündete finden lassen.

Nachdem wir die Veranstaltung verlassen hatten, sprach ich mit S. noch lange über die Ereignisse des Abends. Ich hatte mich einigermaßen wieder beruhigt, doch ich brauchte noch bis zum nächsten Tag, um mich von diesem Erlebnis zu erholen.

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