Keiner Fliege etwas zu Leide tun

Meine Mutter erschlägt in der Küche eine Fliege mit einer Fliegenklatsche. Ich schaue traurig auf den leblosen Fliegenkörper. Ich hätte die Fliege verschont. Sachte nehme ich die Fliege in die Hand. „Tu sie ja nicht wiederbeleben!“, meint meine Mutter scherzhaft. Wenn ich es doch nur könnte...Ein Flügel ist gebrochen und steht in einem sonderbaren Winkel von der Fliege ab. Ich stubse den Körper sanft mit den Fingern an. Plötzlich bewegen sich die Beine. Sie lebt noch! Ich komme mir vor, als würde ich ein Wunder erleben. Dabei war sie wahrscheinlich nur ohnmächtig (oder hat sich tot gestellt?). Mühsam läuft sie ein paar Schritte auf meiner Hand. Mit ihrem kaputten Flügel kommt sie nicht mehr weit, vermute ich. Ich bin unschlüssig, ob ich sie umbringen soll, um sie von ihrem offensichtlichen Leid zu erlösen. Da nimmt Mama die Fliege und wirft sie aus dem Fenster. Nein, warte! Zu spät... Was wird jetzt aus ihr? Ich habe schon länger darüber nachgedacht, wie viel Freud und Leid Insekten spüren können. Es hat mich berührt, wie die Fliege in meiner Hand wieder erwacht ist.
Später. Wieder in der Küche. Eine Fliege. Meine Mutter greift schon nach der Klatsche. Ich greife ein. Nein, warte, die lassen wir zum Fenster raus. ….Stört sie dich heute Abend noch in der Küche? „Nein, heute nicht mehr.“ erwidert sie. „Aber morgen bin ich wieder hier. Morgen wird sie eh nicht überleben.“ „Dann hat sie jetzt einen Tag länger zu leben. Wenn du an ihrer Stelle wärst, würdest du auch gerne noch einen Tag länger leben“, antworte ich. Ich teile mit ihre meine Vermutung, dass Fliegen auch Schmerzen und Freude empfinden können. „Vielleicht“, antwortet Mama. „Eine winzige Freude.“

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